BLEIBERECHT FÜR ALLE – statt Chancenfalle!

Die zweite Woche des Jahres 2023 steht in der Berliner Politik im Zeichen der „Silvesternacht“ und der „Integrationsdebatte“. Eine Aktivistin unserer Kampagne hat dazu etwas anzumerken.

Neues Jahr, alte Rassismus – mich macht das wütend.

Wieder mal Silvester in Berlin – diesmal darf nach zwei Jahren nach großen Sammlungs- und Böllerverboten wieder geknallt werden. Wieder mal wird überlegt, wo man den feierlichen Abend so verbringt, und darüber geredet, dass Berlins Straßen sich für einige Stunden um Mitternacht – wie auch jedes Jahr zuvor – doch in eine „Gefahrenzone“ verwandeln; eine Art Tradition, nicht nur in Berlin sondern deutschlandweit.

Also hoch auf den Berliner Loft-Dachterrassen sammelt sich wieder mal Champagner schlürfend die Oberschicht, um 24 Uhr die offizielle Feuerwerksshow zu bewundern und sich gegenseitig zu ihren Karriereerfolgen zu gratulieren. Und man unterhält sich darüber, wie schrecklich doch alles dort unten vor sich geht. Der Rauch und der Müll und alles. Alles ist sowieso umweltschädlich und gehört im Zeitalter des Klimawandels nicht mehr zu einer zivilisierten Lebensform. Zum Glück fliegt man ja am nächsten Tag – wie jedes Jahr – zum Skifahren in die Schweiz: Dort ist ja die Luft zum Glück noch frisch und rein. Vielleicht sollte man nächstes Silvester besser ganz still in einem Ashram in Indien verbringen…

Und in dieser Nacht auf den Berliner Straßen passiert noch etwas: der feuchte Traum aller AfD-Wähler*innen. Migrantische Kids lassen in Silvesterlaune und im Suff so richtig die Sau raus! Und das noch – wie direkt aus einem Polizeischule-Bilderbuch – im ohnehin gebrandmarkten Bezirk Neukölln! Und natürlich dauert es keine 24 Stunden und die altbekannte rassistische „Integrations“-Debatte nimmt ihren freien Lauf: auf Twitter entsteht sichtbar ein wer-haut-den-schlimmsten-Spruch-raus-ohne-sich-strafbar-zu-machen-Wettbewerb. Nach Polizeiangaben werden 145 junge Menschen mit verschiedensten Staatsangehörigkeiten festgenommen (Tatverdächtige wegen Angriffen auf Einsatzkräfte waren es, wie später bekannt wurde, allerdings nur 38), und bevor von ihrer Seite eine einzige Aussage bekannt wird, kennen bereits viele „Expert*innen“ die Hintergründe zu den Taten in dieser Nacht.

Ich kenne die Beweggründe dieser Kids auch nicht. Wenn aber aus diesen Ereignissen nun eine breite Migrationsdebatte mit Rufen nach „mehr Integration“ oder sogar den grundgesetzwidrigen Entzug deutscher Staatsbürgerschaft losbricht, wird es notwendig, die Migrationsdebatte aus verschiedenen Perspektiven darzustellen. Man muss sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, was diese jungen Leute so wütend macht. Als z. B. Pegida gewaltbereit durch Dresden zog oder Querdenker sogar den Bundestag zu stürmen versuchten, habe ich nicht so einen große medialen Aufschrei nach Demokratieverständnis und harten Strafen wahrgenommen – oder dass die Nachbarschaft die Pflicht hätte, diese abgehängte Dumpfbacken in Schach zu halten – sondern eher Reden voller Empathie, Wir müssten doch bitteschön die „Sorgen des kleinen Mannes“ ernst nehmen, hieß es.

Was ist denn mit den Sorgen, Ängsten und Frustrationen der migrantischen und geflüchteten jungen Menschen? Kids, die mit ihren Familien oder sogar allein vor dem Krieg geflohen sind, ohne ordentliche psychologische Beratung und Therapie in Deutschland zu erhalten. Kids, die durchaus Jahre in menschenunwürdigen Aufnahmelagern wohnen mussten oder noch müssen. Kids, die seitens der Behörden schikaniert werden und mit ihren Familien ständig in Angst vor Abschiebung leben müssen. Kids, die in der Schule, bei der Arbeits- und Wohnungssuche sowie in Bars und Clubs ständig Rassismus erfahren; gerade Kids in Neukölln, deren Trefforte, wie Shisha Bars, systematisch von der Polizei attackiert werden. Kids, die Racial Profiling und Polizeigewalt erfahren.

Meine Arbeitskolleg*innen fragen mich, ob ich Weihnachten und Silvester „zu Hause“ oder in der Heimat verbracht habe. Damit sind nicht meine vier Wände oder mein Wohnbezirk gemeint, sondern mein Herkunftsland. Auch nach fast 20 Jahren darf Berlin irgendwie wohl immer noch nicht mein Zuhause oder meine „Heimat“ sein. Und ich darf dies wohl auch nicht selbst definieren, sondern andere tun dies für mich. Deutschland ist seit einigen Jahren endlich offiziell als „Einwanderungsland“ definiert worden – und welches Land ist das denn nicht? Migration hat es immer gegeben und wird es auch immer geben. Menschen migrieren aus verschiedensten Gründen, aber alle haben gute Gründe dafür und möchten ein neues, gutes Leben an neuem Ort führen.

Wir müssen das friedliche Zusammenleben inklusiv gestalten und nicht einseitig: Menschen sind keine Maschinen, die erst „liefern“ müssen, um dann akzeptiert oder sogar nur toleriert zu werden. Menschen brauchen gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft, Perspektiven und Sicherheit. Niemand kann ein gutes Leben in ständiger Angst vor Abschiebung, Arbeits- oder Bildungsverboten oder Schikanen und Drohungen von den Behörden, Justiz und der Polizei führen. Wenn dies aber der Fall ist, darf man sich nicht wirklich wundern, wenn junge Leute irgendwann ihre Wut und die Sau raus lassen.

Beitragsbild von Till Frers auf Pixabay

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