BLEIBERECHT FÜR ALLE – statt Chancenfalle!

07.10.2022: Rede der Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant_innen e.V. (KuB) zur Auftaktkundgebung der Kampagne ‚BLEIBERECHT für ALLE – statt Chancenfalle!‘

Manche mögen sich fragen, weshalb wir gegen das sogenannte Chancen- Aufenthaltsrecht protestieren. Ist es nicht ein Erfolg? Ist es nicht wichtig, Menschen eine Bleibeperspektive zu eröffnen? Wollen wir die harte Arbeit diskreditieren, die es gebraucht hat, um eine solche Regelung politisch durchzusetzen? Wir meinen, dass genau und differenziert hingesehen werden muss.

Das Chancen-Aufenthaltsrecht ist das Ergebnis eines schon seit Jahrzehnten andauernden politischen Kampfes verschiedener Gruppen für die Rechte von Flüchtlingen und Migrant:innen. Das Protestcamp zum 10- jährigen Jubiläum der Besetzung des O-Platzes bezeugt die Kontinuität dieser Kämpfe. Allein aufgrund der harten politischen Arbeit vieler Menschen ist es immer wieder gelungen, Perspektiven für Menschen zu schaffen, die der deutsche Staat mit Duldungen von gesellschaftlicher Teilhabe und Sicherheit ausschließt. Es geht uns also heute nicht darum, das sogenannte Chancen-Aufenthaltsrecht zu verwerfen – es ist ein Erfolg! Wir wollen aber zugleich daran erinnern, dass viele Missstände weiter bestehen und wirklicher Fortschritt darin bestünde mit den Logiken des bestehenden Migrationsrechts, den Logiken der Kriminalisierung, Kontrolle und des gesellschaftlichen Ausschlusses zu brechen.

Die sogenannte Fortschrittskoalition hat eine Wende in der Migrationspolitik versprochen, einen Neuanfang, der einer liberalen, modernen Einwanderungsgesellschaft gerecht wird. Allerdings sehen wir im Chancen-Aufenthaltsrecht keinen solchen Neunfang, sondern im Gegenteil ein Festhalten an bekannten Methoden, Migrant:innen auszugrenzen und zu diskriminieren. Die angeblich neue Regelung ist bloß eine leicht abgewandelte Form dessen, was vorherige Regierungen bereits 2005 und 2015 eingeführt hatten: stichtagsabhängige Bleiberegelungen. Diese waren und sind aber keine Lösung. Auch damals sollten die Kettenduldungen abgeschafft werden. Da zwischenzeitlich eine mit Repressalien gespickte Form der Duldung eingeführt wurde – die sogenannte Duldung light, versehen mit Arbeits- und Bewegungsverboten –, musste nun aber eine neue Regelung her, um das Problem der Kettenduldungen erneut zu lösen. Es ist absehbar, dass dies mit dem bestehenden Gesetz nicht gelingen wird. In Deutschland leben ca. 240.000 Menschen mit einer Duldung, davon sind ca. 140.000 Personen seit fünf Jahren hier. Einem großen Teil der geduldeten Personen wird das Chancen- Aufenthaltsrecht also gar nicht offen stehen. Der Bundesregierung ist somit vollkommen klar, dass hier kein Problem gelöst, sondern bloß verwaltet wird.

Wie lange soll das dann so weitergehen? Soll alle paar Jahre des Problem der Kettenduldungen erneut halbherzig angegangen werden? Entweder machen sich die politisch Verantwortlichen ehrlich, dass hier keine Probleme gelöst, sondern bloß Missstände verwaltet werden, oder es wird endlich nach echten Lösungen gesucht: Abschaffung der Duldung nach § 60b AufenthG, stichtagsunabhängige Bleiberechts-Regelungen, angemessene Dauer eines Chancen-Aufenthaltsrechts von drei Jahren statt einem Jahr, eine Trennung von Strafrecht und Migrationsrecht und eine Öffnung der Regelung auch für Menschen ohne Aufenthaltspapiere.

Zunächst ist festzuhalten, dass es ohne die Duldung nach § 60b AufenthG das Chancen-Aufenthaltsrecht nicht bräuchte. Menschen mit anderen Duldungen könnten ein Aufenthaltsrecht durch die bestehenden Bleiberechtsregelungen bekommen. Allein die Idee, Menschen durch Repression „abschiebefähig“ zu machen, indem sie durch Arbeitsverbote, Residenzpflicht und die Nicht-Berücksichtigung ihrer Aufenthaltszeit in absolute Perspektivlosigkeit gestürzt werden, hat dazu geführt, dass diese neue Regelung gegen Kettenduldungen notwendig wird. Wir fordern die Abschaffung der Duldung nach § 60b AufenthG statt einer Politik von Zuckerbrot und Peitsche, die erst versucht den Willen von Menschen zu brechen um ihnen daran anschließend letzte Chancen zu gewähren.

Auch darf niemals aus dem Blick verloren werden, dass wer von Chancen spricht, von Kolonialismus, Rassismus und Kapitalismus nicht schweigen darf. Wie kann es sein, Menschen hier in Deutschland letzte Chancen zu gewähren, wenn eine Abschiebung in den meisten Fällen damit einhergeht, dass die Menschen in ihren Herkunftsländern unter einer durch die koloniale Vergangenheit bedingten, grotesken globalen Chancenungleichheit und wirtschaftlicher Ausbeutung leiden, an der Staaten wie Deutschland mit verantwortlich sind? Die Sprache von Chancen endet nicht an Staatsgrenzen. Sie fordert vielmehr dazu auf, allen Menschen überall gleiche Chancen zu gewähren, unter anderem durch Bleiberechte und globale Bewegungsfreiheit.

Wenn wir aber schon von Chancen hier in Deutschland reden, dann muss auch gelten: Nur faire Chancen sind echte Chancen.

Was aber ist daran fair, dass eine Person, die nach dem 01.01.2017 in Deutschland eingereist ist – also beispielsweise nur einen Tag nach dem im Gesetz festgehaltenen Stichtag, am 02. Januar 2017 –, von diesen Chancen ausgeschlossen ist? Sind nicht viele von diesen Personen auch schon seit über fünf Jahren hier? Haben diese Personen nicht auch an der Gesellschaft teil und Chancen verdient? Eine derart willkürliche Stichtagsregelung ist ein Schlag ins Gesicht der sonst so hoch gepriesenen Chancengleichheit. Wir fordern eine stichtagsunabhängige Regelung, die allen Menschen die Möglichkeit eröffnet, ein Aufenthaltsrecht in Deutschland zu bekommen.

Was ist daran fair, Menschen ein Jahr auf Bewährung ein Aufenthaltsrecht zu geben und sie dann – ohne Ansehung ihrer Bemühungen – abzuschieben? Wer seinen Pass nicht besorgt oder nicht genug verdient, dem droht nach einem Jahr die Abschiebung. Wir fordern, dass Menschen mehr Zeit bekommen, sich ein Leben unter sicheren Bedingungen, ohne die tägliche Angst vor Abschiebung, aufzubauen. Wir fordern ein Chancen-Aufenthaltsrecht von 3 Jahren.

Was ist daran fair, dass ökonomische Kriterien wie die Sicherung des Lebensunterhalts die vermeintlichen Chancen den konjunkturellen Schwankungen des Arbeitsmarktes unterwerfen? Was ist, wenn eine Person kurz vor Ablauf des Chancen-Aufenthaltsrechts trotz aller Anstrengungen ihren Job verliert? Was ist, wenn die Ausländerbehörde mal wieder Monate braucht, um über einen Antrag zu entscheiden und

währenddessen die Anstellung aufgrund eines Konjunktureinbruchs gekündigt wird? Was hier befördert wird ist eine ökonomistische Vorstellung von gesellschaftlicher Teilhabe als Bewährung am Arbeitsmarkt. Wir fordern daher die Anerkennung verschiedenster Formen gesellschaftlicher Teilhabe jenseits der Sicherung des Lebensunterhalts.

Was ist daran fair, dass Menschen von einem Aufenthalt in Deutschland ausgeschlossen werden, wenn sie Straftaten begangen haben, die bei Deutschen nicht einmal im polizeilichen Führungszeugnis landen? Für deutsche Staatsbürger:innen verjähren Straftaten, bei Migrant:innen bleiben sie für immer in der Ausländerakte. Warum wird hier mit zweierlei Maß gemessen? Viel deutlicher können Rassismus und Diskriminierung kaum in Gesetzesform gegossen werden. Wir fordern, dass alle die gleichen Chancen haben sollten und das Strafrecht nicht für migrationspolitische Zwecke missbraucht wird.

Was ist daran fair, dass Chancen nur denen gewährt werden, die sich der staatlichen Repression aussetzen? Nicht einbezogen sind bei all dem illegalisierte Personen, die keinerlei Möglichkeit haben, die neue Regelung zu nutzen, auch wenn sie seit Jahren in Deutschland leben, lieben, arbeiten und für sich, ihre Familien, Freunde und Nachbarschaft sorgen. Sind diese Menschen nicht Teil unserer Gemeinschaft? Haben sie etwa keine Chance verdient? Wir fordern, das Chancen-Aufenthaltsrecht an den tatsächlichen Aufenthalt, das Leben in Deutschland zu knüpfen, nicht daran, ob dieses Leben durch den deutschen Staat sanktioniert wurde.

Noch einmal: Wir sind nicht gegen das Chancen-Aufenthaltsrecht – es ist ein wichtiger Schritt und Ergebnis jahrelanger Kämpfe. Aber wir halten es für unzureichend. Ein Chancen-Aufenthaltsrecht, das diesen Namen wirklich verdient, müsste mit bestimmten Logiken des Migrationsrechts brechen. Dafür sind wir heute hier – für ein faires Bleiberecht für alle!

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert